Zukunft der Mobilität – zwei Experten im Gespräch
Wie wird sich die Mobilität entwickeln? Werden immer mehr Leute auf ein Auto verzichten oder Auto-Abos nutzen? Für Michel Bierlaire, Professor an der EPFL Lausanne, und Sylvain Jeanroy von Astara Move ist eines sicher: Eine konkrete Alternative gibt es nicht.
Sylvain Jeanroy (l.) und Michel Bierlaire im angeregten Gespräch auf dem Campus der EPFL in Lausanne.
In der Schweiz haben fast 80 % der Haushalte ein Auto. Glauben Sie, dass das so bleiben wird?
Michel Bierlaire: Das Problem ist, dass es nicht viele Alternativen zum Auto gibt, die alle die möglichen Aufgaben eines Autos erfüllen. Auf das Auto vertraut man, es ist flexibel und verfügbar. Deshalb haben die Leute eins. Und wenn sie einmal ein Auto haben, sind die Grenzkosten der Nutzung so niedrig, dass sie es für alles brauchen, auch wenn es interessantere Alternativen gäbe. Deswegen verbringen zum Beispiel manche Leute Zeit im Stau, auch wenn es mit dem Zug schneller ginge. Wenn Haushalte heute andere Optionen in Betracht ziehen, dann geht es um ein Zweitauto. Denn dieses wird viel weniger benutzt und daher sind die Kosten pro Kilometer höher. Aber wir sind noch weit davon entfernt, ganz auf Autos zu verzichten.
Sylvain Jeanroy: Ich glaube nicht, dass die 80 % der betroffenen Haushalte ihre Mobilitätsgewohnheiten drastisch ändern werden. Aber ich könnte mir vorstellen, dass sich in Zukunft die Art, wie wir Autos nutzen, hin zu mehr Flexibilität, mehr Kurzfristigkeit und zu neuen Finanzierungsarten verändern wird.
Zu den Personen Prof. Dr. Michel Bierlaire (56), Leiter und Gründer des Labors Transport und Mobilität, EPFL Michel Bierlaire ist Doktor der Mathematik und hat sich auf die mathematische Modellierung und die Optimierung von Verkehrssystemen spezialisiert. Im Rahmen seiner Forschung beschäftigt er sich insbesondere mit den Verhaltensaspekten der Mobilität und versucht, innovative Lösungen für verkehrsbedingte Herausforderungen zu konzipieren.
Sylvain Jeanroy (40), Sales Director von Astara Move Schweiz Mit Background in der Autofinanzierung hat Sylvain Jeanroy über fünfzehn Jahre Erfahrung in der Automobilbranche. Bei Astara wechselte er in die Abteilung für operative Entwicklung und war für die Einführung einer neuen Dienstleistung der Marke verantwortlich: Astara Move, ein Auto-Abo, das demnächst auf den Schweizer Markt kommt.
Warum bleibt das Auto das Transportmittel Nummer eins in der Schweiz?
Bierlaire: Vor allem wegen der Flexibilität. In der Schweiz haben wir eins der besten öffentlichen Verkehrsnetze der Welt. Doch im Durchschnitt fahren zwei von drei Zügen fast leer. Was zeigt, dass weder die Qualität der Alternative, noch die Kosten – die als hoch empfunden werden, aber es eigentlich nicht sind, wenn man nachrechnet – das Problem sind, sondern vielmehr der Mangel an Flexibilität. Dies ist ein grundlegendes Bedürfnis. Der öffentliche Nahverkehr deckt nicht die ganze Bandbreite des Mobilitätsbedarfs ab, und da die Leute ein Auto haben, nehmen sie lieber das und stehen im Stau.
Jeanroy: Es gibt noch ein anderes Phänomen: Die Menschen sagen sich «Warum würde ich ein Zugbillett für 60 Franken kaufen, wenn mein Auto schon bezahlt ist?» Aber viele klammern gerne aus, dass die Nutzung eines Autos nicht kostenlos ist. Bei einem Auto fallen bestimmte regelmässige Kosten an (Tanken, Unterhalt, Versicherung), aber erst einmal ist da der Kaufpreis! Der Kaufpreis, oder einfach der Wertverlust des Fahrzeugs, wird von den Lenkerinnen und Lenkern in ihrer Rechnung, wie viel sie das Auto kostet, systematisch ausser Acht gelassen.
Ist das einer der Gründe, warum das Auto-Abonnement heute nur 3 % der Lenkerinnen und Lenker überzeugt?
Jeanroy: Aus dieser Perspektive, die die tatsächlichen monatlichen Fahrzeugkosten ausblendet, kommen Abo-Angebote manchen heute sehr teuer vor. Doch ein Neuwagen kostet im Schnitt 45’000 Franken. Zu dieser Summe muss man rund 10 % jährlichen Wertverlust rechnen. Dazu kommen natürlich die Versicherungs- und Unterhaltskosten. Das Problem beim Abo ist, dass es die tatsächlichen Autokosten transparent macht – was Lenkerinnen und Lenker nicht immer zu hören bereit sind.
Gibt es andere Möglichkeiten der Mobilität?
Bierlaire: In Europa entwickelt sich ein Konzept. Die Idee nennt sich «mobility as a service»: Anstatt Eigentümerin oder Eigentümer seines Fortbewegungsmittels zu sein, abonniert man einen Dienst, der solche Lösungen anbietet. Doch es gibt ein grosses Problem: das Vertrauen. Die Leute fragen sich: «Wenn ich meine Mobilität an diesen Dienst delegiert habe und an ein Konzert gehe, komme ich dann mitten in der Nacht nach Hause, wie ich es mit meinem eigenen Auto tun könnte?» Da gibt es eine Unsicherheit, und es genügt eine schlechte Erfahrung im Umfeld, damit das Vertrauen in den Dienst zunichtegemacht wird. Paradoxerweise existiert so etwas schon seit Jahren im Tourismus: Die Menschen geben ihre gesamte Mobilität an eine Agentur ab, weil sie sich am Zielort nicht auskennen. Die Agentur organisiert Flüge, Busse, Transfers und sogar die Hotels. Im Fall von Problemen haben sie oft nur eine Telefonnummer, an die sie sich wenden können. In Zukunft werden wir vielleicht etwas Vergleichbares für die tägliche Mobilität haben. Dass man eine Lösung abonniert, die in der Lage ist, verschiedene Dienste anzubieten, und auch Ausnahmen oder Notfälle abzudecken. Aber so lange die Menschen nicht gleich viel Vertrauen in das System haben, das die Lösungen liefern kann, wie sie es in ihr Auto haben, wird sich nichts verändern.
Jeanroy: Astara Move, das flexible Auto-Abonnement, das Astara diesen Frühling in der Schweiz lanciert, ist ein erster Schritt in diese Richtung. Bei Astara möchte man in Zukunft weit mehr anbieten können als nur den Verkauf von Autos. Doch Tatsache ist, dass unsere Grundkompetenz die Autos sind. Und wir haben nicht den Ehrgeiz, die Profis für E-Scooter, E-Bikes oder Züge zu werden. Aber irgendwann müssen wir diese Optionen in unser Angebot integrieren, um die Kundinnen und Kunden zufriedenzustellen. Es bleibt jedoch noch einiges zu tun, um alle Akteure der Mobilität zur Zusammenarbeit zu bewegen.
Es ist auch festzustellen, dass man in der Schweiz trotz der hohen Eigentumsquote weniger am Auto hängt. Was denken Sie?
Bierlaire: In der Schweiz ist das Auto mehr oder weniger Teil des Lebensstils. In der Stadt verzichten die meisten auf ein Auto. Und auf dem Land stellt sich gar nicht die Frage, ob man ein Auto will oder nicht, es ist eine Notwendigkeit. Es kommt also auf den gewählten Lebensstil der oder des Einzelnen an. Diese Wahl kann sich jedoch im Lauf der Zeit ändern, wenn ein logistisches Problem auftritt: ein Kind oder Eltern, die man irgendwo hinbringen muss, und so weiter. Und dann bleibt immer das Problem des letzten Kilometers. Da gewinnt das Auto haushoch, weil es uns bis direkt nach Hause bringt.
Jeanroy: Der Vorteil des Auto-Abonnements ist, dass es jeden Kundentyp anspricht. Autoliebhaberinnen und -liebhaber können dank der Funktionsweise des Abonnements beliebig das Fahrzeug wechseln: monatlich, alle drei Monate oder einmal im Jahr. Ebenso sind junge Eltern, die sich bei der Geburt ihres ersten Kindes für ihren ersten Kompaktwagen entscheiden, nicht an ein 48-monatiges Leasing gebunden. Wenn sie in nächster Zeit noch mehr Familienzuwachs planen, können sie problemlos auf ein Familienauto oder sogar einen Minibus umsteigen. Das Abonnement kann sich mit den Bedürfnissen entwickeln, ohne versteckte Kosten und auf flexible Weise.
Im Schweizer Mobilitätsbarometer, entstanden in der Zusammenarbeit zwischen Astara und dem Forschungsinstitut Sotomo, werden daher die Alternativen betrachtet und deren Potenzial eruiert. In diesem Zusammenhang wird auch das Verhalten der Schweizerinnen und Schweizer im Bereich Mobilität näher untersucht, mit Fokus auf das Autofahren und den Autobesitz. In den kommenden Wochen werden verschiedene Aspekte dieser Studie in Experten-Interviews vertieft.
Möchtest du mehr über die Studie erfahren? Dann hast du jetzt die Möglichkeit, die ganze Studie herunterzuladen:
Wäre Carsharing eine nachhaltige Alternative zum Besitz eines eigenen Autos?
Bierlaire: Das Problem des Carsharing ist, dass es nur in der Stadt möglich ist. Ausserdem müssen Fahrzeuge ausserhalb von sehr grossen Städten, in denen es viel Bewegung gibt, systematisch wieder dorthin zurückgebracht werden, wo die Menschen sie brauchen. Dass die Kundinnen und Kunden das Fahrzeug an den Abholort zurückbringen müssen, funktioniert jedoch im städtischen Umfeld nicht, da die Leute nicht zu etwas gezwungen werden wollen. Carsharing ist zudem nicht wirklich rentabel und muss daher in das umfassendere Angebot eines Transportanbieters integriert werden.
Was bräuchte es, um die Mobilitätsgewohnheiten der Menschen zu ändern?
Bierlaire: Warum wollen Sie, dass das aktuelle Modell sich ändert? Was ist das Problem an diesem Modell? Sicher, Autos verursachen Umweltverschmutzung, Staus und Kosten, und das Strassennetz nimmt Platz in Anspruch... 3 % der Fläche, wenn ich mich nicht irre. Aber es hat für die Wirtschaft auch einen unglaublichen Mehrwert. Das Verkehrsproblem zum Beispiel ist in der Schweiz noch nicht so akut, dass es ein echtes Problem wäre. Vor allem, wenn man es mit anderen Ländern vergleicht. Wir haben ein relativ gut funktionierendes Gleichgewicht. Daher besteht kein Grund, etwas zu ändern. Diese Entwicklung findet vielleicht eines Tages statt, wenn ein neuer Akteur auf den Markt kommt oder ein bestehender verschwindet, wenn eine Krise die Wettbewerbsfähigkeit des Autos zunichte macht oder wenn sich andere Mobilitätsdienste deutlich verbessern.
Jeanroy: Sicher ist, dass die Technologie uns bei der Weiterentwicklung der Mobilität helfen wird. Bald werden wir Autos wahrscheinlich im Minutentakt mieten können, denn die Technologie dafür gibt es. Abonnements werden den Menschen eine gewisse Gemütsruhe verschaffen. Mit einem Abo sind sie nicht mehr gezwungen, sich zu einem 24- oder 48-monatigen Leasing zu verpflichten oder eine grosse Summe zu blockieren. Und ich hoffe, dass dies den Übergang zur Elektromobilität voranbringt, denn so können alle in ihrem Alltag für einen, zwei oder drei Monate konkret ausprobieren, wie das Leben mit einem Elektroauto ist. Das Ziel ist, eine Lösung zu finden, die den verschiedenen Wünschen der Gesellschaft gerecht wird. Das Angebot muss daher immer wieder angepasst und verändert werden. Ob es sich nun um einen Kauf, ein Abonnement oder die gemeinsame Nutzung, also Carsharing, handelt.
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